Bad Ems

1944: Die „Reichs-Kalorienzentrale”

Mit den zunehmenden Bombenangriffen auf deutsche Städte werden kriegswichtige Unternehmen und Institutionen auf Anweisung von Rüstungsminister Albert Speer in scheinbar weniger gefährdete Provinzen und damit auch nach Bad Ems verlagert. Generalleutnant Max-Josef Schindler, bisher Rüstungsinspekteur in Polen, bezieht am 14.9.1944 als „Rüstungsbeauftragter West” mit seinem Stab in der oberen Adolf-Hitler-Straße das Haus St. Georg und das knapp 200 Meter entfernte Westfalenheim. Das Düsseldorfer Industrieunternehmen Hydraulik übernimmt mit seiner Verwaltung die Hotels „Guttenberg” und „Darmstädter Hof”. Im Stadtschloß „Karlsburg”, auch Haus „Vier Türme” genannt, richtet sich 1943 das aus Dortmund evakuierte Kaiser-Wilhelm-Institut (später Max-Planck-Institut) für Arbeitsphysiologie ein. Ein vielsagender Begriff, der den wahren Auftrag nicht erkennen lässt. Es ist eine aufwendige Verlagerungsaktion, Soldaten, dienstverpflichtete Arbeiter und Handwerker werden eingesetzt, aber auch alliierte Kriegsgefangene und russische Zwangsarbeiterinnen. Direktor des Instituts ist Professor Dr. med. Gunther Lehmann, dessen Psychologische Abteilung und die von Professor Dr. med. Otto Graf geleitete ernährungsstatistische Gruppe – mit ihren Hollerith-Rechenmaschinen – in der Diezer Luise-Seher-Straße 16 untergebracht sind. Die Luftwaffe hat Prof. Lehmann zwar als Sanitätsoffizier eingezogen, ihm wird aber sofort die weitere „Leitung seines Instituts” befohlen. Die KWI-Ernährungsabteilung leitet Heinrich Kraut (Jahrgang 1893), seit 1. Mai 1937 NSDAP-Genosse (PG.-Nr. 4913613), ab 1942 wissenschaftliches Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), seinen Kriegsdienst wird er beim Volkssturm leisten. Im Oktober 1943 kommt der Professor nach Bad Ems, am 19. Februar 1944 bezieht er mit Ehefrau Klara (45) und seiner Tochter Charlotte Elisabeth (12) im Stein´schen Schloß der Nachbargemeinde Nassau eine Dienstwohnung. Nach Großangriffen am 1. und 2. Februar muss auch dort mit weiteren Bombardierungen gerechnet werden. Am 18. März, einen Tag vor dem schwersten Luftschlag auf die acht Kilometer entfernte Lahngemeinde, wird Kraut mit seiner Familie nach Bad Ems evakuiert, im Schloß Balmoral findet er mit anderen KWI-Mitarbeitern eine neue Bleibe. Zum regelmäßigen Volkssturmdienst samstags und sonntags muss auch er antreten: Schulungsstunden in der Schillerschule, Handgranatentraining und Schießübungen am Schützenhaus in der Gemarkung Wiesbach.

Krauts Institut liegt nur wenige hundert Meter von seiner neuen Unterkunft entfernt in Sichtweite jenseits der Lahn, seine Forschungsschwerpunkte sind die Themen Ernährung und Arbeit. Sieben Wissenschaftler und zeitweise fast 100 Mitarbeiter sind unter seiner Leitung im Haus Vier Türme tätig, einige der aus Dortmund Evakuierten beziehen im angrenzenden Badehaus ihre Unterkünfte, die engen Badekabinen mit den eingemauerten Wannen werden zu Wohn- und Schlafstätten umfunktioniert, aus dem angrenzenden Hundezwinger dringt das Jaulen und Bellen von Versuchstieren. Der Großteil des KWI-Teams ist nach dem Krieg bis 1948 in den Vier Türmen mit neuen Aufgaben beschäftigt. Das Leben im Lahntal und die Mentalität der Einheimischen führt mitunter zu zwischenmenschlichen Spannungen.

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