Bad Ems

1944: Die "Reichs-Kalorienzentrale"

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Der Dortmunder Regierungsbaurat Erich Drape ist verantwortlich für den Umzug, er schreibt später in einem Rückblick: „[...] Überhaupt mussten wir hier (in Diez) – und in grösserem Maße – später in Ems feststellen, dass ein konstantes Arbeiten nicht zu den Vorzügen des Lahngebietes gehört. Dazu ist Arbeitstempo dieser Gegend ungeheuer verschieden von dem des Industriegebietes und zwar sowohl bei den Unternehmern wie auch bei den Beamten. Hinter den Eingesessenen hat scheinbar niemals der Zwang zur eiligen Arbeit gesteckt und am laufenden Webstuhl der Zeit hat das Lahngebiet zweifellos niemals gesessen”. Während der letzten zwei Kriegsjahre wird in Bad Ems über die Gesundheit und das Schicksal von Millionen Zwangsarbeitern entschieden, es geht um die Erforschung der Zusammenhänge von Ernährung und Leistung. Seit 1942 sammeln und bewerten Krauts Mitarbeiter reichsweit solche Verbraucherdaten, im Mai 1944 startet im Ruhrgebiet ein aus Bad Ems unter den zynischen Begriffen „Aktion Butterbrot” und „Kraut-Aktion” gesteuerter Großversuch. 6802 Zwangsarbeiter werden systematisch gefüttert, gewogen und vermessen, darunter so genannte Ostarbeiter aus Polen, 4908 sowjetische Kriegsgefangene, aber auch italienische Militärinternierte.

Die Zuteilung der streng begrenzten Verpflegungsrationen und deren Höhe erfolgt nach klaren Anweisungen des Emser Instituts. 1160 Kalorien pro Tag sind für Ostarbeiter im Bergbau eingeplant. Kraut hält das für zumutbar, in einem Nachkriegsreferat über die Ernährungslage der deutschen Bevölkerung setzt er jedoch deutlich höhere Grenzen – und meint: Von 1550 Kalorien für den Normalverbraucher kann kein Volk leben, und mit einer Leistung von 40 Prozent und weniger der Normalleistung kann auf die Dauer keine Volkswirtschaft existieren. Alle Testpersonen der Kraut´schen Großversuche müssen täglich zur Gewichtskontrolle, es folgt eine auf den Millimeter genaue Überprüfung des rechten Wadenumfangs. Die so gesammelten Daten werden in Bad Ems ausgewertet. Nach diesen Vorgaben sollen Millionen Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge auf Mindestkost gesetzt werden. Die Rationierung erfolgt gestaffelt nach Nationalität und Rasse. Bereits bei vorhergehenden Versuchen stellt Professor Dr. Kraut fest, dass der so genannte „Grundumsatzbedarf” der „Ostarbeiter” täglich 100 Kalorien unter dem der deutschen Arbeiter liege. Begründung: angeblich sind sie kleiner und leichter als die Menschen der deutschen „Herrenrasse”. Für sowjetische Kriegsgefangene lässt Kraut die Zuteilungen um weitere 100 Kalorien auf nahezu ein Drittel der deutschen Arbeiter-Ration reduzieren, weil auch dies noch zumutbar sei. Gesundheitliche Konsequenzen werden nicht berücksichtigt, einziges Ziel von Krauts Versuchen: er will Basisdaten festlegen, nach denen sich – wenn auch nur kurzfristig – die Arbeitsleistung ohne zusätzliche Kalorien in Leistung umsetzen und auch steigern lässt. 1944 geht es um die Grundsatzfrage: Welche Rasse bringt trotz knapp bemessener Ernährung die besten Leistungen. Und dazu stellt Professor Dr. Kraut fest, dass es zwischen den einzelnen Nationalitäten erhebliche Differenzen gebe. Ergebnis: der russische Mensch sei gegen Unterernährung relativ unempfindlich, als Arbeitssklave eigne er sich besonders gut und sei damit rentabler als ein italienischer Zwangsarbeiter. Wörtlich notiert Kraut in einer Zusammenfassung: „[...] Die Russen sind offenbar allgemein widerstandsfähiger auch gegenüber quantitativ unzureichender Ernährung. Vielleicht besser in der Lage, Bewegungen einzuschränken und dadurch Kalorien zu sparen, weniger temperamentvoll.”

Mindestens 30 Mitarbeiter aus Bad Ems und Umgebung sind in Krauts Institut beschäftigt, als Laborgehilfinnen, in der Datenauswertung, als Handwerker, Verwaltungsangestellte, Reinigungskräfte und Küchenpersonal im allgemeinen Institutsbetrieb. Nicht alle von ihnen sind völlig ahnungslos, was hinter den Mauern der „Vier Türme” geschieht, es wird von „kriegswichtigen Maßnahmen” geflüstert, von „Ernährungsplänen”, „Ostarbeiterrationen” und „streng geheimen Untersuchungen”. In den Nachkriegsjahren entsteht ein Flickwerk von Gerüchten und Halbwahrheiten, die ganze Wahrheit kommt erst Jahrzehnte später heraus...