Bad Ems

Späte Aufklärung

Mehr als 15 Jahre nach Kriegsende vergehen, bis das Thema Nationalsozialismus endlich auch an den Schulen behandelt wird. Die heranwachsende Generation erfährt ab 1945 kaum etwas über die Entstehung des Dritten Reiches und die wirklichen Folgen. Wen wundert das? Das Thema ist unerwünscht, es fehlen Vorgaben der Kultusministerien, und die Behörden verharren im Verdrängen. Für die meisten Erwachsenen ist das ein willkommener Zustand, denn fast alle Lehrkräfte waren Parteigenossen. Die NS-Zeit ist für sie nun absolut tabu – und bei den oft nicht minder belasteten Eltern ihrer Schüler unterbleiben mit den unterschlagenen Unterrichtsstunden die befürchteten unbequemen Fragen. Nur einige Pädagogen vermitteln hin und wieder persönliche Rückblicke in Form von geschönten Erinnerungen. Auch manche Erdkundestunde orientiert sich so an den Erlebnissen und Einschätzungen des Unterrichtenden, der dann seine geografischen Kenntnisse aus der Landser-Perspektive vermittelt.

Zaghafte Versuche einer sachlichen Aufklärung führen Ende der Fünfziger und Anfang der Sechziger Jahre zu heftigen Diskussionen in Schulleitungen und Elternbeiräten. Erst eine amtliche Verfügung, nach Beschlüssen und Vereinbarungen der Kultusminister (Kultusministerkonferenz v. 5.7.1962) legt eindeutige Richtlinien für die „Behandlung des Totalitarismus im Unterricht“ fest. Darin heißt es: Die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus gehört zu den wesentlichen Aufgaben der politischen Bildung unserer Jugend. Die Lehrer aller Schularten sind daher verpflichtet, die Schüler mit den Merkmalen des Totalitarismus und den Hauptzügen des Bolschewismus und des Nationalismus als den wichtigsten totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts vertraut zu machen.

Es ist ein beschwerlicher Anfang, behindert durch Verweigerung, Ignoranz und fachliche Überforderung. Aber vor allem durch drei vom Krieg traumatisierte Generationen, die seine Ursachen und Folgen ausgeblendet haben. Erst zum Ende des sechsten Jahrzehnts, lange nach dem Frankfurter Auschwitz-Prozess (Dezember 1963 – August 1965) und dem Bekanntwerden der Massenmorde in den Konzentrationslagern der Nazis wird das Thema “Vergangenheitsbewältigung” gesellschaftsfähig. Ob dies ein Verdienst der so genannten 68er ist, darüber streiten Historiker und Sozialforscher. Mit den damaligen Studentenprotesten wird das lange Schweigen und Vertuschen der Väter- und Tätergeneration zwar öffentlich und damit auch bewusst gemacht, ein kritischer Diskurs findet aber noch nicht statt. Die wirkliche Auseinandersetzung mit diesem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte ist erst die Folge eines über die Jahrhundertwende hinausgehenden und alle Gesellschaftsbereiche erfassenden Aufklärungsprozesses.