Neue Horrorbefehle kommen am 8. März 1945 aus dem „Führerhauptquartier”: Auf Befehl Hitlers droht allen deutschen Familien „Sippenhaft”, wenn sich Angehörige, die als Soldaten eingezogen sind, kampflos in Gefangenschaft begeben, ohne bis zum Äußersten gekämpft zu haben oder verwundet worden zu sein. Am selben Tag, nur wenige Minuten nach Mitternacht, erreicht einer der letzten Lazarettzüge Bad Ems, und wieder bringt er viele Tote mit: Heinrich Mundt (30), Unteroffizier einer Flakabteilung, stirbt um 0.25 Uhr während der Ankunft nach einem Lungen- und Zwerchfelldurchschuss an inneren Verblutungen. Alle Lazarette in der Kurstadt sind hoffnungslos überfüllt, täglich treffen neue Transporte mit Verwundeten von der bedrohlich nahen Westfront ein, es gibt erhebliche Versorgungsprobleme. Sogar im Theatersaal des Kurhauses liegen die Verwundeten, dichtgedrängt Matratze an Matratze, der Gestank von Blut, Jod, Äther, Chloroform und Urin dringt durch die geöffneten Fenster auf die obere Römerstraße. Die Zeitzeugin Edith Kalter, die als Verwaltungsangestellte täglich Unterlagen in die Lazarette bringen oder dort abholen musste: Der Kursaal war voller Verwundeter, überall hörte man sie stöhnen und röcheln. Im Theatersaal lagen die Sterbenden, viele waren schon tot. Aber gegenüber im Hotel „Vier Jahreszeiten” war der Stab des „Oberbefehlshabers West” in weinseliger Untergangsstimmung. Man hörte durch geöffnete Fenster die Korken knallen und die Offiziere lauthals schwadronieren. Gelächter und Gläserklirren drang auf die Straße. Offenbar hatten sie den Weinkeller geplündert. Manche feierten mit Freundinnen, die sie aus Frankreich mitgebracht hatten. Ich erinnere mich noch an die Szene, als ein hoher Offizier mit einer Französin das Haus verließ, und seine gutgelaunte Begleiterin, in einen weißen Pelzmantel gehüllt, mit ihm davoneilte. In deutlicher Distanz schauten Passanten diesen Ereignissen schweigend aber sichtbar erregt zu.
Zur gleichen Zeit mobilisiert der Volkssturm das letzte Aufgebot: Von der Zwangsrekrutierung der bedingt Wehrfähigen bleiben auch in Bad Ems nur wenige zurückgebliebene männliche Bürger verschont. 450 Greise und Kinder sollen in den Endkampf ausrücken. Sogar 14-Jährige werden, nur mit Schaufeln oder Panzerfäusten bewaffnet, an die Heimatfront geschickt. „HJ-Spätlese” nennt man die Kindersoldaten spöttisch. Verpflegung müssen sie mitbringen: „Fünf Pfund Kartoffeln”, so stehts im Marschbefehl. Jürgen Güll: Am 24. März 1945 kam ein Polizist zu uns mit der 2. Einberufung, die diesmal schärfer formuliert war: „Falls bis zum 25. März der Notdienstverpflichtung nicht Folge geleistet worden ist, sind die Jugendlichen sowohl wie die Erziehungsberechtigten dem Standgericht zu überantworten.”...