Freitag, 31. Juli 1914: Ein warmer Sommerabend senkt sich über das Lahntal – in Bad Ems beginnt das Finale einer glanzvollen Zeit. Noch spielt die Kurkapelle vor großem Publikum, im angrenzenden Gartenlokal herrscht trotz brisanter politischer Entwicklungen und der reichsweit angespannten Atmosphäre eine friedliche Wochenendstimmung. Fröhliche Menschen plaudern unter Kastanienbäumen, elegant gekleidete Passanten flanieren über frisch geharkte Kieswege. 2412 Gäste logieren in den Hotels, Villen und Pensionen zwischen Bahnhofs- und Kaiserbrücke, 82 sind erst am Tag zuvor aus den USA, aus Russland, Rumänien, Frankreich, Holland und dem Deutschen Reich angereist. Das rege Treiben in der Kurstadt hat Oscar Barnack, Erfinder der legendären Leica-Kamera, noch wenige Tage zuvor mit einer selbst gebauten 35mm-Filmkamera aufgenommen.
Im „Weltbad” Ems ist Hochsaison, fremde Sprachen dominieren im Kurviertel, ein internationales Publikum und multikulturelles Flair beherrschen die Szene: Prominenz aus Hochadel, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft, wohlhabende Fabrikanten aus Europa und Übersee. Nur des Kaisers Offiziere fehlen beim traditionellen Stelldichein – sie warten in den Kasernen auf ihre große Stunde.
„Es ist Krieg”, schreit plötzlich ein aufgeregter Mann, der mit fliegenden Rockschößen durch die Römerstraße radelt. Die Passanten reagieren mit Kopfschütteln. Ein Verrückter, meinen die einen, ein Trunkenbold, vermuten andere. Schon am Tag zuvor schüren solche Gerüchte Unruhe, der Oberbahnhofsvorsteher fordert die Kurgäste zu baldiger Abreise auf, die Ortspolizei rügt ihn wegen Panikmache und die Emser Zeitung warnt vor der Verbreitung solcher „Tartarennachrichten”. Doch nun mehren und verdichten sich ähnliche Krisen-Berichte, Meldungen aus dem Telegraphenamt und telefonische Anfragen der Emser Zeitung im Hauptmeldeamt Frankfurt bestätigen sie. Reichsweit verkünden Extrablätter den „allgemeinen Kriegszustand”...