Es ist schon viel über die deutsche Zeitgeschichte zwischen 1914 und 1964 geschrieben worden. Im Gegensatz zu handelsüblichen Geschichtsbüchern macht Wilfried Dieterichs das Geschehen jener Zeit nicht nur an Daten fest, er beschäftigt sich auch ausführlich mit den Handelnden in jener Zeit. Diese Chronik schildert die Vorgänge in Bad Ems, in einer scheinbar ganz gewöhnlichen Stadt. Aber sie beweist auch, dass deutsche Provinzen keine Zonen der Ahnungslosen waren. Jahrzehntelang hatte der Kurort eine Sonderstellung, hier trafen sich europäische Regenten, hohe Militärs, politische Entscheidungsträger und herausragende Persönlichkeiten aus Industrie, Kunst und Wissenschaft. Die Badestadt mit ihren legendären Heilquellen war weltweit bekannt, sie fehlte auf keiner Landkarte.
Hier häuften sich Ereignisse, die weit über die Stadtgrenzen hinaus und bis zum Untergang des Dritten Reiches – und darüber hinaus – entscheidend waren und nun vom Autor detailliert beschrieben werden. Als historische Stätte deutsch-französischer Spannungen wurde der Badeort jahrzehntelang geprägt: Auf der Emser Kurpromenade kam es zur folgenschweren Begegnung zwischen König Wilhelm I und dem französischen Botschafter Benedetti (13.7.1870) und zur „Emser Depesche”, die Frankreich mit einer Kriegserklärung an Preußen beantwortete. Den kurz darauf folgenden Einmarsch der Deutschen, Wilhelms Kaiserkrönung in Versailles und die beiden Weltkriege, das hatten die Franzosen nicht vergessen, Bad Ems bekam es in zwei Besatzungsphasen zu spüren.
Sven Hedin hat Bad Ems im ersten Weltkrieg erlebt, in einem Buch beschrieben und den Lazarettbesuch des deutschen Kaisers bei einem französischen Leutnant geschildert. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, dem Beginn der ersten deutschen Republik, dem besiegelten Waffenstillstand im Wald von Compiègne und der bedrohlichen Revolutionsstimmung im gesamten Land wurde in Bad Ems erneut Geschichte gemacht: 400 Delegierte aus allen Verbänden der deutschen Streitkräfte trafen sich Ende November 1918 im Kurhaus zum „Vertretertag des Deutschen Feldheeres”. Sie forderten eine verfassungsgebende Nationalversammlung und versicherten der noch jungen deutschen Demokratie „Schutz gegen jegliche Angriffe von links und rechts”. Umsturzversuche im späteren Besatzungsgebiet konnten sie nicht verhindern: Ems wurde zu einer Hochburg der im gesamten Rheinland agierenden Separatisten-Bewegung.
Bad Ems blieb darüber hinaus ein Ort der Besonderheiten: Generaloberst von Seekt, Gründer der Reichswehr, war zu Gast, Generalfeldmarschall von Mackensen besuchte in Ems mehrfach das „Reichstreffen der Altveteranen”. Albert Einstein engagierte sich hier als Förderer einer Erholungsstätte für mittellose Künstler und Gelehrte, ein hoher NS-Funktionär übertrug dann das Haus der Gleichschaltung, die Don-Kosaken unter der Leitung von Serge Jaroff wählten Ems für einen Dauer-Aufenthalt.
SS-Truppen der „Leibstandarte Adolf Hitler” bereiteten in dem Kurort den Angriff auf Frankreich vor. Fast die gesamte „erste Nazi-Liga” und die ihr nahe stehende Prominenz des so genannten „Tausendjährigen Reichs” kam nach Bad Ems, zu Kurzbesuchen, zur Kur oder zur Entspannung inkognito. Hitler feierte hier mit seiner Leibstandarte das Weihnachtsfest, auch SS-Reichsführer Heinrich Himmler war dabei, er kehrte in den dunkelsten Stunden des Krieges in geheimer Mission an die Lahn zurück. Der alkoholsüchtige Robert Ley, Chef der Deutschen Arbeitsfront (DAF), fiel auch bei einem Empfang im Kurhaus aus der Rolle, SA-Chef Viktor Lutze machte mit Ehefrau Henriette in Bad Ems Urlaub, nach ihm kam der Ufa-Star Olga Tschechowa, und Lale Andersen sang auf der Kurhausbühne den an allen Fronten beliebten Hit „Lili Marleen”.
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