Das Kapitel Nationalsozialismus, dessen Anfänge und Verbreitung im heutigen Unterlahnkreis, wird von Wilfried Dieterichs besonders intensiv behandelt. In der Kurstadt lebten Täter und Opfer der Nazi-Zeit: Wegbereiter der Hitler-Diktatur und Deutschnationale, die mit den braunen Ideologen sympathisierten – aber auch engagierte Gegner des Systems. Adolf Reichwein, ein Mann aus dem engeren Widerstandskreis des 20. Juli 1944, wurde in Bad Ems geboren. Politisch Gleichgesinnte kämpften hier bereits vor 1933 gegen den aufkeimenden Nationalsozialismus. Judenverfolgung und Kristallnacht-Pogrome konnten sie nicht verhindern, beides zählt zu den schwärzesten Kapiteln der Stadtgeschichte. Emser machten NS-Karrieren: einer wechselte in die Führungsetagen der Gestapo, ein anderer kam in leitender Position zur Reichskulturkammer und wurde Organisator der europaweiten Kunst-Raubzüge. Ein ehemaliger Mitbürger – einst Realschullehrer in Bad Ems – stieg zum Stellvertreter des Berliner Gauleiters Josef Goebbels auf, er engagierte sich als eifriger Helfer im Propagandaministerium und schließlich als umstrittener Planer der NS-Pädagogik. 1948 wurde er nach einem Schauprozess in der sowjetischen Zone trotz umstrittener Beweislage wegen zahlreicher Mordbefehle hingerichtet. Ein vierter Bad Emser begleitete den späteren Reichspropagandaminister Goebbels bis zum Untergang des Dritten Reichs als Verbindungsoffizier. Stramme Emser Parteigenossen retteten Hitler-Gegner vor dem Henker, ein Arzt lieferte solche der Gestapo aus...
Schon wenige Jahre nach dem Krieg versuchten SS-Nachfolgeorganisationen und Neo-Nazis hier einen Neubeginn. Auch der Rest von Hitlers Leibstandarte versammelte sich unter seinem Führer Sepp Dietrich zum ersten heimlichen Nachkriegstreffen. Diese Dokumentation führt auch zu Ereignissen, die an anderen Orten geschehen sind, aber direkten oder auch indirekten Bezug zur Kurstadt haben. Darum ist dieses Buch mehr als „nur” ein Rückblick auf die jüngere Heimatgeschichte. In den ersten Jahren seiner Recherchen stieß der Autor sehr oft auf eine Mauer des Schweigens. Zu manchen Kapiteln der 30er und 40er Jahre wollte man nichts sagen. Eine ehemalige BDM-Führerin sprach, nach den Eindrücken zu Hitlers Besuch in Ems befragt, noch voller Erfurcht vom „Führer”. Es gibt noch heute ehemalige Funktionsträger der Hitlerjugend, die wie eine verschworene Gemeinschaft zusammenhalten und sogar nach Vorlage von eindeutigen Belegen nur zögerlich Auskunft geben. Hin und wieder hört man aber auch von einem HJ-Führer, der sich in den letzten Kriegstagen besonders wehrwillig aufspielte, aber vor dem Einmarsch der Amerikaner mit NS-Funktionären das Weite suchte. Daraus entstanden Abneigung und Verachtung, die bis in die heutige Zeit bestehen.
Wer dann noch die Bad Emser Bevölkerungsstruktur der Nachkriegszeit durchleuchtet, stößt auf gespaltene Lager, gestörte Nachbarschaftsbeziehungen – und auf Akten, Notizen, Dokumente, die zu entsprechenden Ereignissen in der NS-Zeit führen. Nicht jeder, der nach dem Krieg eine Vergangenheit ohne „braune Flecken” vorgab, war tatsächlich unbelastet. Mancher ehemalige Parteigenosse wurde Christdemokrat, FDP-Mitglied oder Sozialdemokrat. Nicht alle politischen Lebensläufe von Amtsträgern im öffentlichen Leben sind so geradlinig, wie in den Rückblicken angegeben. Es gab Volksgenossen, die besonders eifrig waren – und Mitbürger schon wegen einer läppischen Bemerkung anschwärzten. Es gab aber auch NSDAP-Funktionäre, die zwar unverbrüchlich zum Staat standen, jedoch nie auf Kosten der Mitmenschen agierten. Es kam sogar vor, daß Nazis ihnen bekannte Systemgegner vor staatlicher Willkür und Verfolgung schützten. Da waren aber auch Mitbürger, die radikal jede Abweichung vom System ahndeten, anzeigten – und sogar Mitmenschen in den Tod getrieben haben.
Auf rund 600 Seiten hat Wilfried Dieterichs die Ereignisse in Bad Ems und Umgebung festgehalten, mit vielen Geschichten in der Geschichte. Nach mehr als 20 Jahren weltweiter Recherchen, unter anderem im Nationalarchiv (NARA) Washington, in amerikanischen, französischen, russischen und deutschen Militärarchiven, in deutschen Bundes- und Landesarchiven sowie in zahlreichen Stadt- und Ortsarchiven orientiert sich dieses Buchmanuskript an Originalakten, Zeitungsberichten, Tagebuchaufzeichnungen, an Fachliteratur, Ton-, Film- und Fotodokumentationen aber auch an vielen Gesprächen mit Zeitzeugen.